Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention
Posted: April 19th, 2021 | Author: buehnenkampf | Filed under: General | Comments Off on Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-KonventionVor etwa vier Wochen, genauer am Samstag den 20. März 2021 ist die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten. Wieso dieser Austritt ein Schlag für Frauenrechtsbewegungen und -organistaionen ist, was es mit der Konvention eigentlich auf sich hat, und welche Folgen es für die Türkei nach sich zieht, wollen wir hier beleuchten.
Was ist die Istanbul-Konvention?
Die Türkei hat sich unter dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan entschieden aus der Istanbul-Konvention auszutreten. Dies ist allerdings keine parlamentarische Entscheidung gewesen, sondern ein weiterer Akt der Machtdemonstration seitens Erdoğan, da die Opposition in den Entscheidungsprozess gar nicht erst einbezogen wurde. Bei der Istanbul-Konvention handelt es sich um das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Den Namen Istanbul-Konvention hat die Übereinkunft dadurch, dass sie am 11. Mai 2011 von 13 Mitgliedstaaten des Europarats in Istanbul unterzeichnet worden ist. Die darin aufgeführten 81 Artikel beinhalten umfassende Verpflichtungen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, zum Schutz der Opfer und zur Bestrafung der Täter:innen. Die Konvention zielt damit zugleich auf die Stärkung der Gleichstellung von Mann und Frau und des Rechts von Frauen auf ein gewaltfreies Leben. Bis März 2020 wurde das Übereinkommen von 45 Staaten unterzeichnet und von 34 ratifiziert, was bedeutet, dass das Abkommen als völkerrechtlicher Vertrag in diesen Ländern in Kraft gesetzt wurde.
Innerhalb dieser Konvention wird schon in der Präambel beschrieben, dass Frauen und Mädchen häufig schwere Formen von Gewalt erfahren und auch im Namen der „Ehre“ begangenen Verbrechen ausgesetzt sind. Gerade deshalb sollten sie durch eine Übereinkunft wie diese unter besonderem Schutz stehen. Die geschlechtsspezifische Gewalt ist eine „schwere Verletzung der Menschenrechte von Frauen und Mädchen sowie ein Haupthindernis für das Erreichen der Gleichstellung von Frauen und Männern.“ Die Konvention beinhaltet die Präventionen und Verhütung von sexueller Gewalt, einschließlich Vergewaltigung (Artikel 36), Zwangsheirat (Artikel 37), Genitalverstümmelung (Artikel 38) sowie inakzeptable Rechtfertigungen für Straftaten, einschließlich der im Namen der sogenannten „Ehre“ begangenen Straftaten (Artikel 42).
Was sind die Gründe für den Austritt?
Wie schon zuvor beschrieben, ist auch dieser Handlungsschritt eine weitere Machtdemonstration der AKP unter Erdoğan. Außerdem verliere Erdoğan, die AKP und der inoffizielle Koalitionspartner, die rechts-nationalistischen MHP, Umfragen zufolge zunehmend an Rückhalt und Popularität im Land. Durch die Behauptung, die Konvention untergrabe die traditionelle Familienwerte und verleite zum „westlichen“ Lebensstil kann mithilfe des Austritts die religiös-konservativen Wähler:innenschaft abgeholt werden. Dieser internationale Vertrag sei von Menschen vereinnahmt worden, die danach streben würden, die Homosexualität zu normalisieren, wogegen Erdoğan mit seinem Austritt sich ganz klar positioniert und den konservativen Teil der Bevölkerung anspricht.
Gewalt an Frauen in der Türkei
In den Jahren, zwischen 2015 und 2019 hat sich die Zahl der Femizide in der Türkei mehr als verdoppelt. Sie stieg von 303 auf 474 Fälle (2019) – der bisher höchsten Anzahl an Femiziden, die in einem Jahr in der Türkei aufgezeichnet wurde. Das sind knapp 40 Frauen jeden Monat. Die Dunkelziffer wird noch höher geschätzt.
2011, dem Jahr, in dem die Istanbul Konvention von der Türkei unterzeichnet wurde, wurden die bisher niedrigste Zahl an Femiziden verzeichnet. In diesem Jahr hatte die türkische Regierung zumindest nach eigenen, offiziellen Angaben, eine Null-Toleranz Kampagne zu Gewalt gegen Frauen gestartet. Bereits einige Monate nach der Unterzeichnung jedoch, stiegen die Zahlen wieder rasant an. Frauenrechtsorganisationen kritisieren die nicht hinreichende Umsetzung der Konvention, und bringen diese in direkte Verbindung mit dem Anstieg der Femizide.
Abbildung über die Anzahl der Femizide zwischen den Jahren 2010-2017 (http://kadincinayetleri.org)
Besondere mediale Aufmerksamkeit erreichten die Fälle von Ayşe Tuba Arslan, Emine Bulut und Sude Çet. Ayşe Tuba Arslan war 23-mal zur Polizei gegangen, um ihren gewalttätigen Ex-Mann anzuzeigen. Sie bekam keine Hilfe, und wurde im Oktober 2019 von ihm erstochen. Emine Bulut wurde von ihrem Ex-Mann in einem Restaurant vor den Augen ihrer 10-jährigen Tochter erstochen. Das Video der Überwachungskamera kursierte monatelang im Netz, bis sich Staatspräsident Erdoğan zu Wort meldete, und dem Vater der Ermordeten sein Beileid aussprach. Statt öffentliche Gelder in Institutionen gegen Gewalt an Frauen zu investieren, eine landesweite Aufklärungskampagne zu starten, und eine radikale Umschulung des Polizeiapparats einzuleiten, drohte Erdoğan, die Todesstrafe wieder einführen zu wollen, um Männer wie Buluts Ex-Mann ermorden zu lassen.
Die 23-jährige Sude Çet wurde 2018 von ihrem Chef und einem weiteren Mann in ihrem Büro vergewaltigt, und anschließend aus dem Fenster geworfen. Die Polizei berichtete später, Çet habe sich das Leben genommen, obwohl die Gerichtsmedizin neben einem Nackenbruch, Risse in der Analregion und betäubende Substanzen in ihrem Blut feststellen konnte. Die mediale Resonanz, und Aufruhr auf den Straßen von Frauenrechtsorganisationen und der Bevölkerung führten dazu, dass der Fall erneut aufgerollt wurde. Der Haupttäter wurde zu lebenslänglicher, und der Mittäter zu 19 Jahren Haft verurteilt.
Suizid als Deckmantel der Femizide
Die Klassifizierung eines Femizids als Selbstmord ist ein in der Türkei häufig auftretendes Verbrechen. Einzelne Fälle erreichen teilweise durch jahrelange Anklagen der hinterbliebenen Familien mediale Aufmerksamkeit, da diese immer wieder die erneute Aufarbeitung der Fälle fordern. Ein Beispiel dafür ist der Femizid an Ayten Kaya. Sie wurde erhängt in ihrem Haus aufgefunden, woraufhin von der Staatsanwaltschaft sofort von Suizid ausgegangen wurde, obwohl der Autopsie-Bericht keine Todeszeit vermerkte, und unzählige Symptome, wie blauen Flecken auf ihrem Körper eindeutig nicht auf Selbstmord zu deuten waren. Die Staatsanwaltschaft erschloss sich dennoch dazu, die Akte zu schließen.
Die Organisation Mor Çatı sieht das Problem vor allem in der Struktur des Justizsystems. In einem prädominant männlich geprägten System sei es sicherer für männliche Mörder, einer Strafverfolgung zu entgehen, wenn der Suizid des Opfers vorgetäuscht und von allen Handelnden mitgetragen wird.
Ehrenmorde
Der Begriff „Ehrenmord“ bezeichnet den Mord an einer in der Regel weiblichen Person, von deren Familienmitgliedern. Durch die Tötung soll die Ehre, welche durch die kulturellen Verhaltensregeln und deren Kodex aufrechterhalten wird, wiederhergestellt werden. Die Mehrzahl der Ehrenmorde werden von Männern an Frauen durchgeführt, wobei allerdings auch Homosexuelle, oder männliche Liebhaber der Frauen oftmals gefährdet sind.
In der Türkei wurde zwischen den Jahren 2000 und 2006 fast täglich eine Frau zum Opfer eines sogenannten Ehrenmordes. Die Vereinten Nationen veröffentlichten 2007 eine Studie, in dessen Auswertung die Kontrolle von Männern über die Sexualität von Frauen, die Keuschheit von Mädchen, und eheliche Untreue und Scheidung von den Befragten wiederholt in Zusammenhang mit dem Ehrbegriff gebracht wurden. „Morde um der Ehre Willen“ wurden von den Befragten überwiegend als unvermeidbar beschrieben.
Durchschnittlich werden in der Türkei alle fünf Jahre knapp 1090 Ehrenmorde an Frauen von Männern begangen, von denen die meisten nicht vor Gericht landen, da sie als Suizid klassifiziert werden. Die Furcht, dass die Ehre eines Mädchens oder einer Frau, und somit die ihrer gesamten Familie verletzt werden könne, stellt nicht nur die Grundlage der Legitimation dieser Morde, sondern auch die Grundlage für Kinderheirat dar.
Im Jahr 2005 trat das neue türkische Strafgesetzbuch in Kraft, welches für Tötungen aufgrund der Tradition, eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht. Allerdings ist hier zu beachten, dass die Großzahl der Ehrenmorde an Frauen als Suizid klassifiziert werden, und nicht vor Gericht kommen. In Jordanien, Ägypten, Irak, Iran, Kuwaits, Libanon, Libyen, Marokko, Syrien, Tunesien und den Vereinigten Arabischen Emiraten fällt die Strafe für einen Mord milder aus, wenn bekannt wird, dass es sich hierbei um einen Ehrenmord handelt. Bis weit in die 1990er Jahre wurden Ehrenmorde nicht als Menschenrechtsverletzungen behandelt. Erst durch die Arbeit von Terre des Femmes, Amnesty Interntaional und Human Rights Watch wurde im Jahr 1999 mithilfe der EU der Abschlussbericht „Prevention of family violence against young girls and women with Muslim backrounds“ vorgelegt.
Fazit
Auch wenn die Istanbul-Konvention bisher nur symbolischer Natur war, und von der Türkei in ihrer Praxis nie umgesetzt wurde, wurde durch den Austritt ein Schlussstrich unter die feministischen Kämpfe gezogen. Was bedeutet es, dass ein Land aus einer Konvention austritt, die als Zweck Schutz vor Gewalt an Frauen vorsieht, Diskriminierung abschaffen und Gleichstellung erreichen will, und in Form von Behörden und internationalem Austausch zur Beseitigung von Gewalt an FINT Personen beitragen möchte? Es bedeutet, dass patriarchale Machtstrukturen in diesem Land immer noch, und auch weiterhin an vorderster Front bestehen bleiben werden.
Wir sind im Jahr 2021 und FINT Personen, die in der Türkei schon seit vielen Jahren von geschlechterspezifischer Gewalt in Form von Feminiziden1, Ehrenmorden und brutalen Hinrichtungen bedroht sind, werden Schutz und Hilfe abgesprochen. Gesamtgesellschaftlich ist dieser Austritt ein Rückschlag für alle Feminist:innen. Er bedeutet, dass das Leben der in der Türkei lebenden FINT Personen nicht gleichermaßen schützenswert wäre, wie das der anderen.
Solange es gesamtgesellschaftlich patriarchale und unterdrückerische Machtstrukturen, wie die in der Türkei gibt, in denen wir unseren Vergewaltigern und Mördern schutzlos in die Arme laufen, weil uns das Recht auf Schutz und Aufklärung verwehrt wird, dürfen unsere Kämpfe niemals verstummen.
Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist also auch ein Weckruf dafür, dass wir noch lange nicht am Ende des Kampfes gegen das Patriachat sind, und weiterhin laut und fordernd sein und bleiben werden, wenn es um unsere Rechte, unseren Schutz, unsere Unversehrtheit, und die aller FINT Personen dieser Welt geht.
1 Die Begriffe Femizid und Feminizid werden oft synonym verwendet, haben aber nicht die gleiche Bedeutung. Der Begriff Femizid oder auch Intim-Femizid steht für die Tötung von Frauen durch Männer, denen sie nahe standen. Der Begriff Feminizide betrachtet hingegen die Rolle staatlicher Institutionen und Akteure in der Bekämpfung von Tötungen an Frauen. Das heißt, welche Maßnahmen werden von staatlicher Seite getroffen und welche nicht, um Tötungen zu verhindern. (https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/toetung-von-frauen-femizid.html, letzter Aufruf: 18.4.21)
Quellen
- https://de.wikipedia.org/wiki/Ehrenmord#Ehrenmorde_in_der_Türkei
- https://www.dw.com/de/frauenmorde-in-der-türkei-verschleiert-als-suizid/a-56746094
- https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/tuerkei-von-wegen-einzelfaelle
- https://en.morcati.org.tr/reports/combating-violence-against-women-during-the-coronavirus-outbreak-monitoring-report/
- https://www.deutschlandfunkkultur.de/gewalt-gegen-frauen-in-der-tuerkei-bis-zu-fuenfzig-morde-im.979.de.html?dram:article_id=481068
- https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/verhuetung-und-bekaempfung-von-gewalt-gegen-frauen-und-haeuslicher-gewalt-122282
- https://renk-magazin.de/istanbul-konvention-gewalt-frauen-tuerkei/
- https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-03/recep-tayyip-erdogan-istanbul-konvention-gewalt-gegen-frauen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
- https://taz.de/Nach-Austritt-aus-Istanbul-Konvention/!5761685/
- https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-istanbul-konvention-erdogan-frauenrechte-1.5241481
- https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/internationale-zusammenarbeit/internationale-kooperationen/tuerkei
- https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/toetung-von-frauen-femizid.html,